«Das Ego steht den Menschen generell im Weg – und Künstlern und Schriftstellern ganz besonders»
Die Schweizer Bestsellerautorin über ihr neues Buch, den Umgang mit schlechten Kritiken und das Unerkanntbleiben in Amerika.
Das Interview findet an einem sonnigen Februarmorgen statt – acht Stunden vor Putins Angriff auf die Ukraine. Wir sitzen im Garten der Schriftstellerin in San Francisco, vor ihrem Schreibschuppen, ihre zwei Katzen streifen durch die Büsche.
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Milena Moser, wenn Ihnen die US-Behörden die notwendigen Papiere ausstellen*, fliegen Sie am Samstag nach Zürich und beginnen eine mehrwöchige Lesereise. Was bedeutet diese Reise für Sie?
Sie bedeutet mir extrem viel. Ich war zuletzt 2019 auf einer richtigen Lesereise. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich 2020 eine einzige Lesung. Vor der Pandemie machte ich immer zweimal pro Jahr an die 15 Lesungen. Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich manchmal auch ein bisschen erschöpft war, denn diese Touren sind anstrengend. Jeden Tag mit dem Zug an einen anderen Ort, man ernährt sich von Bahnhofsbrötchen...
....Bahnhofsbrötchen?
Die kennt vermutlich jeder, der in der Schweiz Zug fährt: Die mit Käse belegten Laugenbrötchen. Und Rivella Blau. Ich nenne das die Lesereise-Diät. Ist nicht die gesündeste! Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal so vermissen würde. Auf eine perverse Art ging mein Wunsch in Erfüllung. Ich wünschte mir, einmal ein Jahr lang keine Lesereisen machen zu müssen. Und als die Pandemie da war, dachte ich: «Nein! So habe ich es nicht gemeint, ich nehme alles zurück!» Jetzt freue ich mich wahnsinnig auf die Reise. Sie bedeuten auch immer den persönlichen Kontakt mit den Leser:innen und dem Publikum. Am Signiertisch entstehen auch immer Gespräche. Je nach Stadt, in der ich lese, sind im Publikum auch immer regelmäßige Zuhörer:innen, sei das in Bern, Basel oder Zürich. Sie erzählen, was sie bewegt, sie erinnern sich an frühere Begegnungen. Sie erzählen Dinge wie «Als ich das letzte Mal bei Ihrer Lesung war, war ich gerade in Scheidung begriffen, jetzt bin ich frisch verliebt». Es ist ein sehr persönlicher Kontakt, der über das Leseerlebnis hinausgeht. Es ist eine Verbundenheit, die sich für mich durchaus real und persönlich anfühlt, obwohl ich diese Menschen faktisch einmal im Jahr für vielleicht zwei Minuten sehe. Aber es ist trotzdem eine Verbindung da. Dann sind da auch immer die Kommentare – interne Witze – über die Schuhe oder Klamotten, die ich bei den Lesungen trage. So versuche ich immer, lila Cowboystiefel oder sonst etwas Auffälliges zu tragen. Das erwartet das Publikum fast. Die Leute zeigen mir dann ihre Schuhe. Das klingt jetzt alles sehr unliterarisch, aber es ist Teil von der Verbundenheit mit den Leser:innen.
Es geht meist sehr persönlich zu. Sie erzählen sehr offen über sich – nicht nur bei den Lesungen.
Ja, ich erzähle während einer Lesung relativ viel. Zwischen den einzelnen Leseteilen erzähle ich über die Entstehungsgeschichte des Buches. Im Anschluss daran kommen die Fragen aus dem Publikum und die sind oft sehr persönlich – und ich beantworte sie auch. Es gibt sehr wenig, worüber ich nicht rede.
Worüber sprechen Sie nicht?
Über meine rechtlichen Probleme – aus Angst vor den Folgen. Aber wenn das Ganze mal vorbei ist, dann werde ich auch darüber reden. Aber ich ziehe auch Grenzen. Ich rede nicht über andere Leute und kaum über meine Kinder. Das halte ich auch in meiner Kolumne so – und wenn, dann nur mit Erlaubnis. Ich rede vor allem über mich, und da bin ich relativ offen.
Woher rührt diese Offenheit?
Weil ich finde, dass ich «nur» mich zu bieten habe. Ich habe dieses «Du gibst zu viel von dir preis» nie verstanden. Ich bin kein Schoko-Osterhase, bei dem ein abgebrochenes Ohr dann weg ist. Ich bin nicht weg, wenn ich etwas von mir gebe.
Sind diese Vorhaltungen Ausdruck eines eher schweizerischen Umgangs mit dem Privaten?
Ich glaube schon. Hier sehe ich das sehr viel seltener. Als ich vor 20 Jahren das erste Mal hier lebte, merkte ich sofort, dass man einen ganz anderen Umgang mit privaten Informationen pflegt und auch Leuten gegenüber viel offener ist, die man nicht gut kennt. Bei meinem ersten Spielplatz-Besuch mit meinem damals dreijährigen, jüngeren Sohn traf ich auf eine Gruppe von Müttern. Innerhalb kürzester Zeit war man von «Where are you from» übergegangen zu «Bist du verheiratet?», «Bist du monogam?», «Bist du bisexuell?» Ich (ahmt Schnappatmung nach): «I'm from Switzerland!» Und dann kamen natürlich sofort ihre eigenen Geschichten. Ich fand es extrem erfrischend und irgendwie auch befreiend, weil ich aus der Schweiz viel eher die Haltung kannte: Wenn du etwas von dir preisgibst, bietest du Angriffsfläche. Dass man etwas über dich weiß, könnte ausgenutzt werden. Ich bin keine Spionin. Wovor muss ich mich schützen? Dieses Aufrechterhalten einer Fassade hat mich nie überzeugt als Glücksrezept oder als Lebenskonzept.
War das schon Ihre Haltung bevor Sie Schriftstellerin wurden? Diese Offenheit, die in der Schweiz vielleicht als indiskret gilt?
Indiskret heißt für mich, dass ich mit den Geheimnissen anderer nicht achtsam umgehe. Das tue ich nicht. Ich bin nur mit meinen eigenen Dingen offen, und ich habe in dem Sinn keine Geheimnisse. Das wird mir auch oft gesagt, wenn ich Kurse gebe. «Ich habe ein Interview mit dir gesehen, jetzt sitze ich bei dir im Kurs – und du bist genau dieselbe Person». Ja wer soll ich denn sonst sein? Ich bin einfach mich. Ich bin nicht jeden Tag gleich gut drauf. Aber ich kann niemand anders sein als mich selbst. Um auf deine Frage zurückzukommen: Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals nicht ich war. Ich kann mich natürlich an eine Zeit erinnern, in der ich keine veröffentlichte Schriftstellerin war. Aber nicht an eine Zeit, in der ich nicht geschrieben, Geschichten erfunden habe. Das hat vielleicht damit zu tun, dass das Erfinden schon immer ein konstantes Ventil für mich war, so dass ich im richtigen Leben nicht auch noch Dinge erfinden kann. Das würde mich überfordern. Ich kann auch nicht lügen. Das macht meinen Mann wahnsinnig. Der sagt immer: «Milenita! Nur weil jemand eine Frage stellt, heißt das nicht, dass du sie auch beantworten musst.»
Sie sind mit Schriftsteller-Eltern aufgewachsen – wie war das bei Ihnen zu Hause?
Bei uns wurde sehr viel und sehr offen geredet. Es wurde aber auch sehr viel gelogen. (Lacht lauthals) Ich bin nicht sehr bürgerlich aufgewachsen, obwohl ich in den 1960er Jahren und in einem Vorort von Zürich aufgewachsen bin. Aber wir hatten definitiv keine bürgerliche Fassade, und niemand wäre auf die Idee gekommen, wir hätten ein perfektes, gutbürgerliches Familienleben. Meine Mutter…
…die Psychotherapeutin und Autorin Marlis Pörtner…
…hatte dazu eine etwas trotzige Haltung: «Na ja, wir sind halt so wie wir sind». Das ist sicher auch in mir verwurzelt, obwohl ich als Kind durchaus auch die Sehnsucht nach Sicherheit hatte.
Gibt es Dinge, die man Sie nicht fragt, die Sie aber gerne gefragt würden?
Mit meiner abschweifenden Art würde ich bestimmt immer einen Weg finden, etwas zu sagen, auch wenn ich es nicht gefragt wurde.
Wie sieht es mit Fragen aus, die Ihnen immer gestellt werden, die Sie aber nicht mehr hören können?
Mir fällt immer wieder auf, dass die Leute davon ausgehen, dass das, was in meinen Büchern steht, etwas mit meinem persönlichen Leben zu tun hat. Ich glaube nicht, dass Peter Stamm, dessen Figur in einem Buch seine Frau betrügt, gefragt wird: Was sagt Ihre Frau dazu? Betrügen Sie Ihre Frau auch?
Wird bei Autorinnen davon ausgegangen, dass sie in Romanen ihre persönlichen Erlebnisse verarbeiten – und bei Autoren weniger?
Ich weiß nicht, ob es genderspezifisch ist, aber ich werde generell immer gefragt: Hat das mit Ihnen zu tun? Was hat das mit Ihnen zu tun? Der Witz ist, dass ich auch einige autobiographische Bücher veröffentlicht habe, die ganz klar mein Leben oder Ausschnitte daraus widerspiegeln. Die Dinge haben sich so zugetragen, ich teile sie mit den Lesern. Ich verkürze oder lasse Sachen aus, aber nichts ist erfunden. Ich sage dann manchmal ein bisschen entnervt oder ungeduldig: Das ist ein Roman, das andere ist ein autobiografisches Buch – das hier ist erfunden, jenes ist mein Leben. Klar, wenn ich Schweizerinnen in San Francisco beschreibe, dann fließen Beobachtungen von mir oder vielleicht auch Erfahrungen ein. Aber die Figur Helen/Elaine/Luna in «Mehr als ein Leben»...
...Ihr soeben erschienener Roman...
...ist in beiden Versionen meilenweit von mir entfernt. Auch wenn ich dieses latente Schuldgefühl, das Elaine mit sich herumträgt, lange auch mit mir herumtrug. Die Ursache kenne ich nicht. Mein Therapeut sagte einmal: Das einzige, was mit Ihnen nicht stimmt, ist, dass Sie immer das Gefühl haben, etwas stimme nicht. Und er hatte recht. Und dann gibt es eine Frage, die ich schlicht nicht beantworten kann.
Nämlich?
Woher haben Sie Ihre Ideen? Ich habe keine Ahnung, die sind einfach da. Das sind Stimmen in meinem Kopf oder Menschen, die in meinem Kopf wohnen. Das ist keine Frage, die mich nervt, ich kann sie aber nicht beantworten. Die beste Frage eines Journalisten war, als ich gerade mein zweites Kind – meinen zweiten Sohn – bekommen hatte. Er fragte: «Wenn Sie einen Wunsch offen hätten, würden Sie eine Tochter gebären oder mal ein wirklich gutes Buch schreiben wollen?» Die passende Antwort fiel mir natürlich erst viel später ein: Einen Journalisten ermorden – das wäre der Wunsch, den ich noch offen habe! Das war einer dieser Momente, in denen ich dachte: Würde mich mal interessieren, ob männliche Kollegen auch solche Fragen gestellt bekommen.
Wie hat die Pandemie Ihren Prozess beim Schreiben von «Mehr als ein Leben» beeinflusst?
Es gab Verzögerungen, aber das war auch gut für mich.
Warum?
Ich begann den Roman Ende 2019, also vor der Pandemie. Das war auch die Zeit, in der sich Victors Gesundheitszustand so dramatisch verschlechterte.
Milena Mosers Mann, der Künstler Victor-Mario Zaballa, hat zwei verschiedene Herzleiden und muss seit einer Nierentransplantation immunsupprimierende Medikamente nehmen. Eine Erkältung wird bei ihm schnell zur Lungenentzündung. Covid-19 würde er, sagt Moser, nicht überleben. Zaballa hatte außerdem eine Hirnblutung, mehrere Herzinfarkte und Schlaganfälle. 2019 gaben ihm seine Ärzte wenig Überlebenschanden, doch nach zwei großen Operationen verbesserte sich sein Zustand über alle Erwartungen hinaus.
Ich versuchte, lange Strecken des Buches im Krankenhaus zu schreiben. Das gelang mir zum Teil auch, weil du Patienten in amerikanischen Krankenhäusern nicht zu Besuchszeiten zwischen 14 und 16 Uhr besuchst, sondern Du bist den ganzen Tag da, oft auch nachts. Du musst auch da sein, weil sonst dein Angehöriger unter Umständen seine Medikamente oder sein Essen nicht bekommt. Ein Teil des Buches spielt im Krankenhaus. Am Anfang hatte ich noch viel, viel mehr Krankenhausszenen im Manuskript, inklusive unterschiedlicher Szenen in amerikanischen und in Schweizer Krankenhäusern. Irgendwann hat die Lektorin gesagt: «Es ist zu viel Krankenhaus.»
Haben Sie das auch so gesehen?
Es war ein bisschen ein Kampf, aber ich habe es dann eingesehen. Wenn du drin bist in einer solchen Situation, wenn du quasi im Krankenhaus lebst, vergisst du, dass es eine Welt außerhalb des Krankenhauses gibt. Es gibt dann nur noch diesen Kosmos, und es dreht sich alles nur noch darum, was innerhalb dieser Mauern passiert. Ich habe dann gemerkt, dass ich mehr Zeit brauche. Dieser Prozess begann bereits mit «Land der Söhne», dem ersten Roman, den ich nicht mehr in der Schweiz schrieb. Ich wanderte damals, 2015, nicht nur aus, sondern gab auch viele berufliche Verpflichtungen ab. Ich hatte sehr viel mehr Zeit und Raum zum Schreiben. Das war bei diesem neuen Buch genau so und wurde durch die Pandemie sogar noch verstärkt. Ich hatte wirklich die Zeit und den Platz, um diese Geschichte zu erzählen, die mich ehrlich gesagt ziemlich herausforderte.
Was an Ihrer Prämisse hat Sie herausgefordert?
Ich hatte die Idee mit zwei möglichen Versionen des gleichen Lebens, die sich immer wieder überschneiden und in gewissen Punkten gleich und in anderen komplett anders sind. Das war nicht ganz einfach.
Diese auf unterschiedlichen Zeitebenen verknüpften Lebenswege und Entscheidungen einer oder möglicherweise mehrerer Personen und Lebensabschnitte, die sich so abgespielt haben könnten oder auch nicht, fand ich als Leserin auch komplex.
Es war sogar noch komplizierter. Es waren zwei, drei Durchgänge und ein straffendes Lektorat nötig – und es sind am Schluss trotzdem mehr als 500 Seiten geworden. Und wie Sie sagen: Das Buch ist trotzdem immer noch komplex. Das hat auch ein bisschen damit zu tun, dass ich selber sehr gerne und viele Krimis lese. Für mich ist es normal, dass ich beim Lesen nicht genau weiß, warum etwas passiert und was genau passiert ist. Ich lasse mich darauf ein, vom Autor ein bisschen in die Irre geführt zu werden. Das gehört alles zu meinem Leseerlebnis. Deshalb schrecke ich vielleicht nicht davor zurück, etwas zu schreiben, was verwirrend sein könnte.
Deshalb diese Verknüpfungen?
Genau. Die Pandemie und die damit verbundenen Verschiebungen und die erwähnte Tatsache, dass ich nicht zweimal im Jahr für Lesereisen in die Schweiz reiste, hat mir ermöglicht, das Manuskript wirklich in Ruhe und sorgfältig durchzuarbeiten, bis ich das Gefühl hatte: Okay, jetzt stimmt's. Aber es gab durchaus Momente, in denen ich dachte: «Moser, da kommst du nie mehr raus, du hast dich in ein Labyrinth reingeschrieben, holy shit.» Aber das ist auch gut. Es entsteht nichts, wenn man sich nicht in unbekannte Gebiete begibt. Man kann nicht immer im Vertrauten bleiben.
In dem Roman bleiben ein paar Fragen offen. Warum haben Sie nicht alles fein säuberlich aufgelöst?
Es löst sich nicht ganz alles auf, aber spätestens zum Schluss wird klar, dass es zwei Versionen eines Lebens sind. Ich hatte zu Beginn auch noch Traumebenen im Manuskript, in denen sich die beiden Leben vermischten. Die Lektorin erteilte diesen zusätzlichen Ebenen eine Absage. Ich muss ehrlich sagen, ich trauere ihnen noch ein bisschen nach.
Warum?
Ich finde es sehr spannend, mich mit der Möglichkeit auseinander zu setzen, dass es vielleicht gleichzeitig noch eine andere Version von mir gibt. Manchmal hat man doch das Gefühl, es gebe kleine Überschneidungen, wo zwei mögliche Leben sich treffen. Aber ich habe diese Stellen dann zähneknirschend rausgestrichen, und trotzdem finden es manche immer noch etwas verwirrend. Wobei es auch davon abhängt, ob man das Buch in einem Stück durchliest oder größere Pausen einlegt. Anfangs wollte ich überhaupt nichts verraten, habe dann aber doch immerhin Andeutungen eingestreut, dass es um ein und dasselbe Leben geht. Ich wollte nicht zu früh zu viel verraten, einfach genug, damit es nicht zu verwirrend wird. Es muss spannend bleiben, aber es darf das Lesevergnügen nicht schmälern. Das ist eine Gratwanderung, mit der ich ein bisschen gehadert habe.
Wegen der Pandemie wurde die Leipziger Buchmesse abgesagt. Was hätte die Messe für Sie bedeutet?
Ich war ein bisschen enttäuscht, als die Messe abgesagt wurde. Ich war nur ein- oder zweimal auf der Leipziger Buchmesse und fand sie immer intimer, spezieller und aufregender als die Frankfurter Buchmesse. Ich habe mich auch auf «Leipzig liest» gefreut, die Lesungen, die an verschiedenen Orten in der Stadt stattfinden. Ich bin ja in den letzten Jahren nicht nur nicht in die Schweiz gereist, sondern auch sonst nirgendwo hin – also wäre eine Reise nach Leipzig schön gewesen. Wie sich ein solcher Messebesuch auf den Buchverkauf auswirkt, kann ich nicht beurteilen, aber ich persönlich freute mich sehr über die Einladung.
Werden Sie auch die Gespräche mit Kolleg:innen vermissen, die man auf solchen Messen fährt?
(Zögert sehr lange mit der Antwort) Ein bisschen. (Lacht hellauf) Das ist natürlich auch Teil davon, aber es ist definitiv nicht mein Leben. Das ist es nicht, was ich am meisten vermisse. Ich finde Buchmessen extrem aufregend, und sie sind meines Erachtens auch wichtig fürs Ego.
Was passiert denn mit dem Ego auf einer Buchmesse?
Auf diesen Messen stellst Du fest: «Okay, du bist eine von 750'000. Niemand hat auf dein Buch gewartet. Dein Buch muss auch nicht alle Leserwünsche erfüllen.» Ich war früher bei einem größeren Verlag, der auf den Messen jeweils ein rotes Sofa am Stand aufstellte. Auf dieses Sofa durften nur bestimmte Autor:innen. Die anderen Autor:innen durften auf dem Stuhl sitzen. Und dann gab es solche, denen wurde der Kaffee gebracht, und andere mussten sich den Kaffee selber holen. Du wusstest immer ganz genau, wo du stehst. Die Hierarchie war klar.
Welche Autor:innen schafften es auf das Sofa?
Wer viel verkaufte oder viele Preise gewann. Ich weiß nicht mehr, ob es meine erste oder zweite Buchmesse war, jedenfalls setzte ich mich unbedarft aufs Sofa. Zack, da war ich aber schnell wieder weg! Und das finde ich gut. Das Ego steht den Menschen generell im Weg – und Künstler:innen und Schriftsteller:innen ganz besonders. Dabei geht es um die Arbeit, ums Schreiben. Wie dein Buch aufgenommen wird, entscheidet unter Umständen zwar darüber, ob du noch mal eines schreiben wirst. Besser gesagt: Schreiben kannst du immer, aber wie dein Buch aufgenommen wird, entscheidet darüber, ob du nochmals eines veröffentlichst. Von daher ist es schon wichtig, ob du Erfolg hast. Aber letztlich geht es um die Arbeit. Nicht, ob du auf dem roten Sofa sitzen darfst.
Überwiegt diese Einstellung im Literaturbetrieb?
Ich bin, wie gesagt, in einem Schriftstellerhaushalt aufgewachsen. Ich sah, wie es sich auf meinen Vater...
...den Schriftsteller Paul Pörtner
...und seine Freunde auswirkte, dieses ewige Diskutieren darüber, wie sie wahrgenommen werden – ist es gerecht oder ist es ungerecht. Sie hatten ganz andere Ziele als ich. Sie wollten die Welt verändern, aufklären, es war die Generation «nie mehr Krieg». Mein Vater verglich sich oft mit Max Frisch und führte Buch darüber, wie oft jemand im Restaurant an den Tisch kam und fragte «Sind Sie Max Frisch?» oder «Sind Sie Paul Pörtner?» Da hatte er natürlich keine Chance. Als mein Vater starb, stand in der «Zeit», glaube ich, ein kurzer Nachruf: «Es ist einer gestorben, den man schon vergessen hat.» Ich entwickelte als Kind ein ganz klares Gefühl dafür, dass diese Sichtweise es nicht sein kann. Ich wusste immer, dass ich, wie meine Eltern, Bücher schreiben wollte. Aber ich wusste auch immer, dass ich es anders machen will.
Wie anders?
Ich wollte Geschichten erzählen. Ich habe immer das Erlebnis, das Gefühl verfolgt, welches ich beim Lesen und beim Schreiben fast gleichermaßen habe. Das Erlebnis, das Gefühl, als würde ich eine geheime Tür öffnen und eine andere Welt betreten. Das ist von mir aus ein Stück weit auch eine Flucht aus der Realität. Das ist für mich relevant, das andere ist sekundär. Klar gehört dazu, wie ich wahrgenommen werde, ob ich Bücher verkaufe oder nicht. Das ist selbstverständlich wichtig, aber es ist nicht der Antrieb. Deswegen finde ich es eben heilsam, eine Buchmesse zu besuchen. Um festzustellen: «Okay, du bist eine von ganz vielen. Mach deine Arbeit!»
Sitzen die meisten Autor:innen nicht lieber auf dem metaphorischen roten Sofa?
Man darf nicht vergessen, dass Schriftsteller:innen heute gezwungen sind, sich selber zu vermarkten, vor allem auch über die sozialen Medien. Die meisten Schriftsteller:innen sind im Grunde genommen wahnsinnig dünnhäutige und sensible, verletzliche Menschen, die komplett überfordert sind von solchen Menschenmassen, online und in der echten Welt. Dann flüchtet man vielleicht in ein arrogant wirkendes Verhalten. Ich weiß es nicht. Ich neige eh nicht so zu Urteilen über andere. Aber ich stelle fest, dass Gespräche mit anderen Autor:innen sich oft ausschliesslich um die Anzahl verkaufter Bücher drehen. Dabei fühle ich mich in meine Kindheit zurückversetzt – und das Thema hat mich bereits damals nicht interessiert. Ich bin nicht «kollegenfeindlich», ich habe nur begrenzte Aufmerksamkeit für diese Aspekte meines Berufs.
Ein Aspekt Ihres Berufs ist, dass Ihre Bücher von der Kritik oft als trivial verschmäht wurden. Bücher von Frauen werden oft automatisch als Frauenliteratur und deshalb minderwertig abgetan. Wie werden Sie heute in der Schweiz wahrgenommen?
Ich kann es nicht wirklich beurteilen. Am Anfang, als ich meine ersten Bücher im Eigenverlag veröffentlichte, waren die Kritiken abgrundtief schlecht, gepaart mit viel Empörung: «Wie kann es jemand wagen, so zu schreiben?» Die Bücher haben sich trotzdem verkauft. Und im Jahr darauf gab es mich immer noch, und im Jahr darauf auch, ich veröffentlichte immer neue Bücher, mal in einem größeren Verlag, einmal mit mehr Erfolg, mal mit weniger. Und die ganze Zeit hieß es: Die kann nicht schreiben, die schreibt «Chick lit», die Bücher müssen seriöse Leser nicht interessieren – müssen Männer nicht interessieren, es ist keine Literatur.
Mein erster Mann hatte eine Buchhandlung in Zürich, die Buchhandlung am Kunsthaus, und er veröffentlichte vier Mal jährlich eine Zeitschrift namens «Sans Blague: Magazin für Schund und Sühne». In dem Magazin veröffentlichte ich meine ersten Geschichten, nach dem Motto: Dann schreibe ich halt Schundliteratur. Wir alle wussten damals: Die Bücher, die wir lieben, gelten nicht als ernsthafte Literatur. Ich verfasste auch einmal einen Ratgeber, wie man einen Schundroman schreibt. Das war alles auch eine jugendliche Trotzreaktion, ein bisschen eine Flucht nach vorn: «Ihr sagt, ich sei keine Literatur. Okay, ich bin Schund und stolz drauf.» Aber Tatsache ist, das ist der Schutz, den ich mir durch das Aufwachsen in meinem Elternhaus aneignete. Ich bin wie imprägniert.
Die schlechten Kritiken können Ihnen nichts anhaben?
Klar verletzen mich schlechte Kritiken. Aber ich habe mich nie wegen einer Kritik grundsätzlich in Frage gestellt. Ich stelle mich in Frage, wenn ich das Gefühl habe, ich dass ich nicht das kann, was ich können will, wenn ich nicht das schreiben kann, was ich schreiben will. Und so habe ich einfach immer weitergemacht. Und irgendwie, irgendwann war eine Akzeptanz vorhanden – die Moser, die gibt es einfach. Wie Unkraut. Ich glaube, «Land der Söhne» war das erste Buch, das durchgehend gute Kritiken erhielt. Das war 2018, Buch Nummer 21, glaube ich.
Sie werden häufig als Expertin für weibliche Befindlichkeiten oder «Frauenthemen» abgetan. Was war an Buch Nummer 21 anders ?
Ich glaube, die Themen sind nicht so anders. Ich habe mir mehr Zeit genommen. Ich habe es größer, umfassender geschrieben, über drei Generationen. Es hat sicher auch mit dem Alter zu tun und, wie bereits erwähnt, mit den veränderten Lebensumständen. Ich habe aber zwanzig Jahre lang mit meinem Schreiben eine Familie ernährt. Das bedingt, dass ich viele, vielleicht zu viele Aufträge angenommen habe, es hat zu einer Verzettelung geführt, einer phasenweise Überforderung. Ich bereue diese Zeit nicht, ich bin stolz darauf, das ohne jegliche Unterstützung oder Kulturförderung geschafft zu haben. Mit «Land der Söhne» war ich damals übrigens zu den Solothurner Literaturtagen eingeladen, zum ersten Mal seit fast 30 Jahren. Die Moderatorin begann mit der Anmerkung: «Wir waren alle ganz erstaunt, dass Sie so ein gutes Buch geschrieben haben.» (Lacht schallend).
Nicht die leichteste Eröffnungsbemerkung...
Aber es ist ja auch ehrlich. Aus ihrer Sicht war es: «30 Jahre lang haben wir gesagt, du kannst nicht schreiben – und plötzlich kannst du es doch.» Ich selbst habe nicht das Gefühl, mein Schreiben habe sich stark verändert. Meine Themen sind nicht unbedingt andere. Ich schaue sie einfach ein bisschen anders an. Ich habe nicht mehr diese Wut, die ich früher hatte. Ich bin ein bisschen altersmilde geworden.
Elfriede Jelinek sprach einmal von der «Verachtung des weiblichen Werks». Die Misogynie im Literaturbetrieb ist immer wieder Thema, auch 2022 noch. Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen diesem Thema und Ihrem Werdegang?
Ich kenne den Literaturbetrieb nicht wirklich. Ich hatte immer das Gefühl, meinen eigenen Spielplatz zu haben. Die guten Kritiken, die Einladung nach Solothurn und die Anerkennung freuten mich damals extrem. Das hat mir auch gezeigt, dass mir diese Dinge womöglich doch gefehlt haben, wenn auch nicht so bewusst. Aber für mich bleibt dennoch das, was am Schreibtisch passiert, das Wichtigste. Akzeptanz oder Nichtakzeptanz, mehr Verkauf, weniger Verkauf, gute Kritiken, schlechte Kritiken – das wirkt sich nicht wirklich auf mein Schreiben aus. Und so sehr ich mich jetzt auf die Lesereise freue, das Schöne für mich ist das Schreiben und nicht das Verkaufen oder Promoten des Geschriebenen. Aber wenn die Reaktionen so wohlwollend ausfallen, dann gibt das ein bisschen eine Leichtigkeit und einen Glanz, was ich lange nicht kannte – und das habe ich durchaus genossen. Aber mein Schreiben ist nicht davon abhängig. Zudem habe ich immer diese Stimmen im Kopf, ich nenne sie die Affenstimmen, die mein Schreiben unaufhörlich kommentieren. Das kennen alle, die schreiben. An diese Stimmen und was die mir sagen, kommt die böseste Kritikerin nicht ran. Aber auch die Affenstimmen halten mich nicht ab vom Schreiben.
Sie waren in den Nullerjahren schon einmal ein paar Jahre in San Francisco, sind zurück in die Schweiz, bevor Sie 2015 nach Santa Fe auswanderten. Vor rund drei Jahren sind Sie dann wegen der Liebe wieder nach San Francisco gezogen. Wie erleben Sie die Stadt heute, im Vergleich zum ersten Mal?
Ich bin heute einer dieser unerträglichen alten Grumblys, die andauernd darüber sprechen, wie viel besser es hier war vor 20 Jahren. Das irritierte mich bei meinem ersten Aufenthalt immer sehr. Und ich merkte dann schnell, dass San Francisco eine Stadt ist, in der der Großteil der Bevölkerung von irgendwoher kommt – und zwar mit einer bestimmten Vorstellung und einem bestimmten Anspruch an die Stadt. Es wird dann so deine Stadt. Die Zeit, in der du hier angekommen bist und in der du die Stadt zu deiner gemacht hast – das ist irrigerweise die Glanzzeit der Stadt. Und so ergeht es mir auch ein bisschen. Ich muss sehr aufpassen, dass ich keine irrationalen Ressentiments gegen die Tech-Industrie und alles, was mit ihr zusammenhängt, entwickle. Aber klar, die Stadt hat sich verändert, das Stadtbild hat sich verändert. Jetzt beherrschen in vielen Vierteln mehrheitlich propere junge Menschen in unauffälliger Kleidung das Stadtbild. Es ist nicht mehr dieses «anything goes»-Straßenbild. Jedenfalls kommt es mir so vor. Damals sah man viel häufiger Menschen, die man sehr schnell in eine falsche Schublade hätte stecken können. Eine von oben bis unten tätowierte Frau, die sich als Rabbinerin herausstellte. Oder ein Mann in einem hässlichen Polyesterjäckchen, der wie Schulabwart aussieht. Und dann beginnt er mit einem über experimentelle Musik zu reden.
Und in der Schweiz?
In der Schweiz – zumindest habe ich es immer so empfunden – beurteilt man eine Person immer sehr schnell nach ihrem Aussehen und der Art, wie sie sich ausdrückt, ihre Sprache, der Akzent. Dann meint man schon alles zu wissen: Proper, nicht proper, erfolgreich, Loser. In der Schweiz habe ich auch immer das Gefühl, dass die Szenen oder homogenen Grüppchen unter sich bleiben. Du gehst in ein Lokal und alle tragen die gleiche Hose. Dann gehst du in ein anderes Lokal und dort ist es wieder ein anderer Code. Die Gruppen und Altersgruppen vermischen sich kaum. Und das fand ich hier immer so unglaublich befreiend. Du redest mit allen und du weißt nie, was dich erwartet. Ich hielt mich ja immer für sehr vorurteilsfrei, offen und tolerant, musste dann aber feststellen, wie oft ich hier in Rastern dachte und diese auf Menschen anwendete. Aber heute sind hier nicht mehr so viele unkonventionelle Menschen unterwegs, finde ich. Ich kämpfe dagegen an, zu denken, dass es früher bunter, ausgefallener war. Aber gleichzeitig muss ich zugeben, dass San Francisco für mich nicht mehr das Ende des Regenbogens ist wie damals. Der Lack ist schon ein bisschen ab.
Könnte es auch damit zusammenhängen, dass Sie nicht mehr als privilegierte Expat hier sind, sondern mit einem Mann, der als Mexikaner und vor allem indigener Mexikaner ganz andere Erfahrungen macht, selbst im vermeintlich toleranten San Francisco?
Ich dachte ja immer, San Francisco ist keine rassistische Stadt. Ich sah zwar, dass ein Problem besteht, aber ich verstand es nicht wirklich und es beschäftigte mich nicht groß.
Und jetzt?
Zehn Jahre später mit Victor erlebe ich den Rassismus viel direkter. Wir gehen in ein Schuhgeschäft, in dem ich zuvor ein halbes Vermögen investiert habe, und plötzlich werden wir nicht mehr bedient. Im Warenhaus gehen zwei Leute hinter uns her. Zuerst denke ich noch: Interessant, der Service ist viel besser geworden, immer ist jemand zur Stelle. Bis Victor mir sagt, dass die ihn beobachten, damit er nichts klaut. Ich war so unbedarft, wie so viele weiße Menschen, die keine Ahnung haben, wie es ist, sich als Nichtweißer durch die Welt zu bewegen. Richtig gefährlich wird der Rassismus etwa im Krankenhaus, wenn das Personal automatisch annimmt, dass Victor betrunken ist, weil er Mexikaner ist. Da kommen dann immer die Fragen, wie viel er trinke. Oder wo er lebe, «in einem Wochenhotel, in einer Obdachlosenunterkunft?» Dass Victor indigener Mexikaner ist, macht die Sache noch komplexer. Da ist zum Beispiel der interne Rassismus. Auf einem Amt behandelte uns eine mexikanischstämmige Beamtin wie Dreck, weil ein Indigener – ein in der mexikanischen Hierarchie minderwertiger Mexikaner – vor ihr steht, der es wagt, in diesem Land weiterzukommen, als sie. Ich bin auch in diesen Situationen weit davon entfernt, wirklich zu verstehen, was passiert. Aber ich nehme etwas wahr, das vor zwanzig Jahren auch existierte, damals aber komplett an mir vorbei ging. Und das erschreckt mich zutiefst. Dass man so ein falsches Bild haben kann, dass man wirklich ehrlich denken kann: Ist doch alles gar kein Problem. Deshalb bin ich heute auch sehr vorsichtig. Ich rede nicht über Dinge, von denen ich nichts weiß. Ich maße mir nicht an, dass meine Erfahrung ausschlaggebend ist. Und vermutlich habe ich das vor 20 Jahren gemacht, wenn ich sagte, San Francisco ist eine weltoffene, tolerante Stadt. Ich bin von meinen Erfahrungen ausgegangen.
Wie haben Sie entschieden, Themen wie Rassismus in Ihrem neuen Buch zu verarbeiten?
Es hat mit Victor zu tun, es hat mit Trump zu tun, der damals noch an der Macht war, und es hat auch mit meiner persönlichen Erfahrung zu tun. Im Buch gibt es eine Szene mit der Hauptfigur Luna bei einer Theateraufführung einer Schule. Das habe ich damals, als meine Kinder in den Nullerjahren hier zur Schule gingen, so erlebt. Es war eine Theateraufführung in der Schule, anlässlich Thanksgiving – und ich dachte, das darf doch nicht wahr sein. Es war ein bisschen so, als würden in einer deutschen Schule die Kinder als KZ-Häftlinge verkleidet tanzend über die Bühne hüpfen und singen. Auf die tatsächliche Bedeutung von Thanksgiving angesprochen hieß es dann: «Entschuldigung, das ist unsere Kultur».
Wie wird so eine Szene mit dieser Problematik in der Schweiz aufgenommen? Denken die Leser dann: Die Amis sind so doof? Wobei Thanksgiving – für die Ureinwohner hier Erinnerung an Massaker und ein nationaler Tag der Trauer, sicher kein Feiertag – beispielsweise in der Schweiz absurderweise auch immer mehr zum Anlass für Truthahn-Essen, Kürbisse etc. geworden ist.
Hinzu kommt, dass wir Schweizer auch Dinge feiern, die womöglich problematisch sind. Ich habe bisher keine Reaktionen auf solche Stellen im Buch bekommen. Aber ich kann mir vorstellen, dass Leser:innen sich womöglich in ihren Vorurteilen gegenüber den Amerikanern bestätigt fühlen. Aber ich kann nicht beeinflussen oder kontrollieren, was die Leute denken, wenn sie mein Buch lesen. Als Leseratte weiß ich: Wie ein Buch bei mir ankommt oder was ich aus einem Buch herausziehe, hat viel mit mir selbst zu tun. Es kommt vor, dass ich ein Buch wieder lese, das ich vor zehn Jahren liebte, das mir das Gefühl vermittelte, es sei genau für mich geschrieben worden. Zehn Jahre später denke ich: Mmh, nicht so toll.
Das Buch ist das eine, der Leser das andere?
Genau, das spielt irgendwie zusammen, und ich habe keinen Einfluss darauf. Ich kann mich zudem nicht beeinflussen lassen und denken: Wenn ich das schreibe, dann passiert dieses oder jenes oder dann denken die Leser:innen dieses oder jenes. Die Leute dürfen denken, was sie denken. In dem Moment, in dem sie das Buch in der Hand halten, ist es ihr Buch, ihre Geschichte. Was immer sie beim Lesen empfinden oder denken, ist richtig, denn es ist ihr Leseerlebnis. Es muss nicht übereinstimmen mit dem, was ich mir beim Schreiben gedacht habe.
Machen Sie sich Gedanken, wie Sie als weiße Europäerin über diese Problematik hier in den USA schreiben?
Ich schreibe in «Mehr als ein Leben» immer aus der Sicht einer Schweizerin, die auf Erlebtes reagiert. Das ist meine Position. Das war auch in «Land der Söhne» der Fall. Ich redete lange mit Victor darüber, wie ich die dort enthaltenen Pueblo-Sagen nacherzähle, ob ich sie überhaupt nacherzählen darf. Seine Antwort: «Das Anerkennen und Verbreiten einer anderen Kultur ist immer erlaubt, aber du darfst nicht so tun, als sei es deine.» Und so achtete ich bei «Land der Söhne» immer darauf, dass es immer der weiße Junge ist, der auf diese Sagen reagiert und über sie nachdenkt. Er denkt vielleicht völlig Falsches. Aber es ist nie die indianische Perspektive. Das würde ich mir nie erlauben, das finde ich sehr wichtig. Im neuen Buch, in dem die Aids-Epidemie in San Francisco in den 1980er Jahren vorkommt, schreibe ich nie aus der Sicht eines Aids-Kranken. Ich schreibe immer aus der Sicht einer Schweizerin, die auf Dinge reagiert. Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, aus lauter Vorsicht diese Themen zu umschiffen. Ich glaube, der Respekt besteht darin, dass man sich nicht anmaßt, eine andere Perspektive zu kennen. Aber deine Reaktion auf eine andere Kultur darfst du durchaus beschreiben. Es kann auch hilfreich sein, sich damit auseinanderzusetzen. Tut man das nicht, dann bewegt sich nichts. Und wenn ich nur noch Bücher schreiben darf, in denen es um ältere Damen mit weißer Hautfarbe geht, die Haus und Garten haben, dann ist das ein bisschen eng. Aber ich bleibe bei meiner Perspektive. Ich masse mir nicht die Innensicht einer anderen Kultur an.
Wie ist es für Sie als relativ bekannte Person in der Schweiz sich hier in Amerika völlig unerkannt zu bewegen?
Ich muss ehrlich sagen, ich erlebe in der Schweiz eigentlich selten oder nie Unangenehmes. Vielleicht kriegte eine Yogalehrerin Schnappatmung, wenn ich bei ihr im Kurs auftauchte. Oder wenn mich jemand nicht am Aussehen erkennt, dann kommt eine Reaktion, sobald ich meinen Namen sage. «Ah ja, ich weiß, wer du bist». Und ich weiß nicht, wer du bist. Das Kennenlernen ist hier irgendwie organischer. Ich kenne dich nicht, du kennst mich nicht – mal sehen, ob wir uns mögen. Manchmal sagen Leute auch: «Hach, es tut mir so leid, ich habe nie ein Buch von dir gelesen.» (Lacht) Das ist keine Grundvoraussetzung, um mit mir zu reden! Ich beklage mich nicht über die Aufmerksamkeit in der Schweiz, aber es ist definitiv nicht etwas, was mir fehlt. Ich genieße hier auch die Freiheit, Dinge auszuprobieren oder auch mal zu scheitern. Ich kann es mit Wellenreiten versuchen, nur um dann festzustellen, dass es mir überhaupt nicht liegt. Dann höre ich halt wieder auf, aber es ist dann nicht so: Huch, Milena Moser ist am Surfen. Aber wie gesagt, es ist auch in der Schweiz nicht wirklich ein Thema. Ich bin ja nicht Tina Turner.
Wünschen Sie sich, dass die Leute hier Ihre Bücher auch lesen könnten? Ein wichtiger Teil Ihrre Identifikation findet hier nicht statt, weil Ihre Bücher nicht übersetzt werden.
Ich habe mir lange und heftig gewünscht, dass meine Bücher auf Englisch übersetzt werden. Aber so etwas läuft vor allem über die Verlage und steht nicht in meiner Macht. Ich habe einmal ein Buch auf eigene Kosten übersetzt und herausgegeben. Auch damit ich Freunden und Freundinnen sagen kann: «This is me, this is what I do. This is my book.» Das war aber ein relativ teurer Spaß. Ich habe es überhaupt nicht bereut, aber ich kann es nicht mit jedem Buch machen. Ich habe jetzt einfach akzeptiert, dass es halt nicht so ist. Das hat mich vor zehn Jahren sicher noch mehr beschäftigt und auch gewurmt.
Welches Buch haben Sie übersetzen lassen und wie kam es an?
Es war «Das Glück sieht immer anders aus». Ich bin damit in Santa Fe, wo das Buch zum Teil auch spielt, in die Buchhandlungen und habe gesagt «I wrote this book, do you want to take it on commission?». (Ahmt nach, wie jemand das Autorenfoto und dann sie beäugt:) «Ist that you? No, I don't think so.» Keine einzige Buchhandlung hat es genommen, niemand wollte es. Ich habe sogar im Gym gefragt, ob die Leute mein Buch lesen wollen. Und irgendwann dachte ich: «Okay, das war jetzt eine heilsame Erfahrung. Sehr buddhistisch, Anfängergeist, zurück auf Feld eins. Aber ich will mich eigentlich lieber auf das nächste Buch konzentrieren.» Meine Energie geht ganz klar immer ins Schreiben. In das, was ich jetzt gerade schreibe oder was ich als nächstes schreiben werde. Und ich habe die Sache mit der englischen Übersetzung ein bisschen – wie soll ich sagen – losgelassen. Aber ich würde selbstverständlich nicht nein sagen, wenn ein entsprechender Vorschlag käme. Vielleicht fange ich in 10 Jahren an, auf Englisch zu schreiben, who knows?
*Einen Tag nach unserem Gespräch erhielt Milena Moser die nötigen Papiere für die Wiedereinreise in die USA. Sie konnte ihre Reise in die Schweiz – und die Lesereise – antreten.
Was wäre gewesen, wenn?
Helens Kindheit ist keine unbeschwerte. Ihre Mutter verarbeitet die Trennung von Helens Vater Luc vornehmlich mit Alkohol, während sich dieser eher seinem Reporter-Job und seinen wechselnden Freundinnen widmet, als sich seiner Verantwortung zu stellen. So lernt Helen früher, als ihr lieb ist, wie man sich allein für den Kindergarten bereit macht und die Ausbrüche der Mutter vor den schaulustigen Nachbarinnen vertuscht. Glücklicherweise wohnt da auch die Familie Esposito mit Sohn Frank, der Helens Hand hält und sein Lunchpaket mit ihr teilt. Als Luc eines Tages das Sorgerecht beansprucht, steht Helen vor einer grundlegenden Entscheidung. Welchen Lauf wird ihr Leben nehmen? Wird sie erfolgreich sein, verheiratet mit ihrer Sandkastenliebe, aber belastet mit einer Schuld, die das Familienglück trübt? Oder will sie nur weit weg, endlich unabhängig sein, sich ausprobieren und neu erfinden? Man lebt schließlich nur einmal – oder? (Kein & Aber)